Adipositas, also starkes Übergewicht, ist ein Teufelskreis: Je mehr man zunimmt, desto schwerer fallen Sport und Bewegung. Je weniger Bewegung, desto schneller steigt das Gewicht. Betroffene leiden seelisch und haben oft ernste Folgekrankheiten. Ein bariatrischer Eingriff, also eine Magenverkleinerung, kann ein Ausweg sein.
Neulich hat Markus Gilg seinen Hochzeitsanzug entsorgt. „Den hätte man inzwischen locker zweimal um mich herumwickeln können“, grinst der 38-Jährige. Nach seiner Magenverkleinerung im letzten Jahr hat Markus Gilg massiv abgenommen. Statt 156 bringt er nur noch 106 Kilogramm auf die Waage. „Ich war schon als Kind zu dick. Als Erwachsener habe ich alles Mögliche probiert, um abzunehmen, von Diät-Shakes bis Weight Watchers. Nichts hat funktioniert, und das, obwohl ich viel Sport mache“, so der leidenschaftliche American Football Player.
„Bewegungsmangel, Überernährung und Fehlernährung sind häufige Ursachen für eine Adipositas, aber nicht die einzigen“, weiß Professor Dr. Ludger Staib, Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Klinikum Esslingen. „Neueste Forschungen zeigen, dass auch die genetische Veranlagung eine wichtige Rolle spielt. Es gibt Menschen, die Nahrung besser verwerten als andere.“
In der Steinzeit waren diese Menschen im Vorteil. Heute ist Nahrung immer und überall verfügbar, und Übergewicht gilt in Deutschland als Volkskrankheit. Zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen haben einen Body-Mass-Index (BMI) von über 25 kg/m2. Ab einem BMI von über 30 gilt man als adipös, stark übergewichtig. Ein Viertel der Erwachsenen sind betroffen. Professor Staib, der am Klinikum Esslingen das Adipositaszentrum leitet, beobachtet zwei Trends: Erstens: Die Zahl der Adipösen nimmt zu. Zweitens: „Den wenigsten Betroffenen gelingt es, ohne Hilfe abzunehmen. Adipositas ist ein Teufelskreis. Je höher das Gewicht, desto schwerer fallen Sport und Bewegung. Je weniger mobil man ist, desto schneller nimmt man zu.“
Auch Footballer Markus Gilg fühlte sich durch seinen „Kessel“ zunehmend eingeschränkt: „Wenn ich mit meinen kleinen Nichten und Neffen herumtobte, kam ich sofort aus der Puste.“ Als er und seine Frau selbst eine Familie planten, kam er ins Grübeln: „Wer will schon einen Papa, der so dick ist, dass er nicht mit seinen Kindern spielen kann? Noch dazu war es nur eine Frage der Zeit, bis das Übergewicht mich krank gemacht hätte.“
Wer adipös ist, hat ein stark erhöhtes Risiko für eine Reihe ernster Erkrankungen, darunter Diabetes mellitus, Gicht, Gelenkverschleiß, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfall, Fettleber, Schlafapnoe und sogar Krebs. Hinzu kommen oft psychische Probleme: Essstörungen, Depressionen, soziale Ängste. „Ein krankhaft Adipöser sucht im Schnitt Fachleute aus elf verschiedenen medizinischen Disziplinen auf“, so Professor Staib.
"Bewegungsmangel, Überernährung und Fehlernährung sind häufige Ursachen für eine Adipositas."
Professor Dr. Ludger Staib
Anfang 2020 beschloß Markus Gilg, etwas zu unternehmen. Er stellte sich in der Adipositas-Sprechstunde des Klinikum Esslingen bei Oberarzt Dr. Clemens Poth, dem stellvertretenden Leiter des Adipositaszentrums, vor. „Bei ihm habe ich mich sofort super wohl gefühlt. Dr. Poth hat erklärt, mit welchen chirurgischen Möglichkeiten das Abnehmen unterstützt werden kann und mit mir einen Fahrplan für die nächsten Schritte aufgestellt.“
Dr. Poth rät Markus Gilg zu einer minimal-invasiven Schlauchmagen- Anlage, einer Operation, bei der 4/5 des Magens entfernt wird. Übrig bleibt ein schmaler, bananenförmiger Schlauch mit einem Fassungsvermögen von 150 Millilitern. Ein normal großer Magen kann zwei bis drei Liter fassen. Die Patienten können nach dem Eingriff nur noch kleine Portionen essen. Zusätzlich kommt es zu hormonellen Veränderungen, die das Hungergefühl reduzieren. „Die Schlauchmagen-Anlage ist heute in der Adipositas- Chirurgie die erste Wahl“, so Professor Staib. Im Vergleich zu anderen Verfahren sei sie schonender: „Der normale Weg der Nahrung bleibt erhalten, Mangelerscheinungen treten seltener auf und man kann den Magen weiterhin per Magenspiegelung untersuchen.“ Seit Gründung des Adipositas Zentrums im Jahr 2011 wurden in Esslingen 222 adipöse Patienten operiert, 170 von ihnen mit dem Schlauchmagen-Verfahren.
Es gibt aber auch Fälle, in denen die Esslinger Experten zu einem anderen Verfahren raten: Beim Magen-Bypass wird der Nahrungsweg so umgestaltet, dass über den Zwölffingerdarm und den oberen Teil des Dünndarmes keine Nahrungsbestandteile mehr aufgenommen werden können. Zusätzlich erfolgt eine Reduktion des Magenvolumens. „Wenn ein Schlauchmagen nicht zur gewünschten Gewichtsabnahme ausreicht, legen wir einen Bypass an. Als primäre Maßnahme empfehlen wir den Eingriff für Diabetiker, da er den Blutzucker normalisieren kann“, so Professor Staib. Sowohl Magenbypass, als auch Sleeve Magen lassen sich nicht rückgängig machen, und in beiden Fällen müssen die Patienten ein Leben lang Nahrungsergänzungsmittel – Vitamine und Mineralpräparate – einnehmen.
Für Markus Gilg waren das keine Argumente, die gegen die OP sprachen. „Allerdings stellte sich mir die Frage: zahlt meine Krankenkasse?“ Nach den Leitlinien der Deutschen Adipositas- Gesellschaft, an denen sich auch die Kassen orientieren, sind chirurgische Eingriffe ab einem BMI von 40 kg/m² oder ab einem BMI über 35 und schweren Begleiterkrankungen zu erwägen. Außerdem sieht die Leitlinie eine OP nur vor, wenn die konservativen Therapien Ernährungsberatung, Verhaltenstherapie und Bewegung über sechs Monate versagt haben.
Markus Gilgs Krankenkasse übernahm die Kosten. Ausschlaggebend für die Zustimmung war aber nicht die Leitlinie, sondern die Empfehlung der Esslinger Experten. „In unserem Adipositasboard kommen Fachärzte aus allen relevanten Disziplinen zusammen: Chirurgie, Psychosomatik, Diabetologie, Endoskopie, Innere Medizin und Schlafmedizin. Gemeinsam begutachten wir jeden Fall und sprechen gegebenenfalls eine OP-Empfehlung an die Krankenkasse aus. In der Regel folgen die Kassen dieser Empfehlung“, so Professor Staib.
Im Juni 2020 wurde Markus Gilg operiert – coronabedingt etwas später als geplant. Vor dem Eingriff musste er eine spezielle Eiweißdiät einhalten. Ein paar Tage vor der OP wurde eine Magenspiegelung durchgeführt. Der Eingriff selbst erfolgte minimalinvasiv und dauerte circa 1,5 Stunden. „Gleich nach der OP dürfen die Patienten in kleinen Schlucken Flüssigkeit zu sich nehmen – Wasser, Brühe, Trink-Joghurt. Kohlensäurehaltiges ist Tabu. Nach circa 14 Tagen kann auf pürierte Kost umgestiegen werden, dann nach und nach auf feste Nahrung“, so Professor Staib.
Die meisten Patienten bleiben fünf bis sieben Tage zur Beobachtung im Krankenhaus. „Der Eingriff verlief bei mir ohne Komplikationen, und ich habe mich rundum gut betreut gefühlt. Für alle Fragen gab es immer einen Ansprechpartner“, lobt Markus Gilg. Nach dem stationären Aufenthalt blieb er weiter mit dem Behandlungsteam in Kontakt. Eine erste postoperative Kontrolle erfolgte gut vier Wochen nach der OP, danach fanden alle drei, sechs und 12 Monate Nachsorgetermine der lebenslang geplanten Nachsorge statt.
Eine Adipositas-OP kann der entscheidende Schritt in ein neues, gesünderes Leben sein. Sie bedeutet aber auch eine große Umstellung: Die Betroffenen müssen ein Leben lang bewusst essen und auf ausreichend Bewegung achten. „Nur dann ist der Eingriff nachhaltig erfolgreich“, betont Adipositas-Experte Professor Staib. „Wer zurück in alte Verhaltensmuster fällt, zu viel isst und seinen Magen ständig überdehnt, nimmt wieder zu.“ Zum Expertenteam am Adipositaszentrum des Klinikum Esslingen gehören daher Ernährungsberater und Psychologen, die die Patienten vor und nach der OP unterstützen. Außerdem rät Professor Staib seinen Patienten, sich bereits vor der OP einer Selbsthilfegruppe anzuschließen.
Das Klinikum Esslingen kooperiert eng mit der „Selbsthilfegruppe Adipositas Mittlerer Neckar.“ Ehrenamtlich geleitet wird diese von Claudia Schwarz-Blazek und Susanne Schmidt-Reinisch. Beide haben vor einigen Jahren einen Adipositas-Eingriff durchführen lassen und es so geschafft, ihr Gewicht deutlich zu reduzieren. „Ohne die OP wäre ich vermutlich gestorben“, sagt Susanne Schmidt-Reinisch. „Ich wog 240 Kilogramm und hatte massive gesundheitliche Probleme. Heute geht es mir gut.“ Claudia Schwarz-Blazek erzählt: „Fahrradfahren, Flugreisen – für andere sind solche Dinge selbstverständlich. Für mich war all das aufgrund meines Gewichts lange nicht möglich. Durch den Eingriff kann ich heute wieder am Leben teilhaben.“
Die notwendige Lebensumstellung sei für Menschen, für die Essen eine Sucht ist, jedoch kein einfacher Weg: „Man wird ja nicht am Kopf operiert, sondern am Magen. Auch wir mussten erst einmal lernen, den Kühlschrank zuzumachen. Heute noch müssen wir im Alltag manchmal aufpassen, dass wir nicht in die Essens-Falle treten: Der beiläufige Griff in die Chipstüte ist einmalig keine Katastrophe, darf aber nicht wieder zur Gewohnheit werden. Eine klare Tagesstruktur und ein Ernährungstagebuch helfen.“
Die beiden berichten auch, dass viele den Abnehmprozess als Berg- und Talfahrt erleben. Sie sind erst euphorisch über die deutlich sichtbaren Veränderungen. Später fallen sie in ein Loch, da die Gewichtsreduktion dann langsamer vorangeht. Noch dazu kämpfen Adipöse oft mit seelischen Problemen, sie haben Ausgrenzung und Stigmatisierung erlebt oder aufgrund von Immobilität und Krankheit Partner, Freunde oder Job verloren. „Abnehmen alleine löst diese Probleme nicht“, wissen Schmidt-Reinisch und Schwarz- Blazek. Jedoch lassen sich mit professioneller psychologischer Unterstützung individuelle Lösungsansätze erarbeiten.
In der Selbsthilfegruppe können die Betroffenen sich ebenfalls im geschützten Raum austauschen. „Auf Menschen zu treffen, die in der gleichen Lage sind und einen verstehen, gibt Kraft“, sagen die beiden, die sich regelmäßig zu Adipositas- Themen fortbilden und immer ein Ohr für ihre Gruppenmitglieder haben. „Für uns ist die Gruppe eine Lebensaufgabe.“ Während der Coronakrise trafen sich die Mitglieder online, inzwischen findet wieder einmal im Monat ein „reales“ Meeting in den Räumen des Klinikum Esslingen statt. Gemeinsame Wanderungen und Feste schweißen die Teilnehmer zusätzlich zusammen, häufig entstehen Freundschaften.
Kontakt: www.adipositas-mine.de
Nach der OP hat sich für Markus Gilg viel verändert: „Ich habe kein richtiges Hungergefühl mehr. Ich muss nach Plan essen, drei kleine Mahlzeiten am Tag. Klar, dass da das gesellschaftliche Erlebnis Essen flöten geht: Die Jungs hauen sich bei der Grillparty fünf Würste rein, für mich ist nach einer Schluss. Mehr passt nicht rein.“ Das nimmt er gerne in Kauf, dafür, dass er jetzt bei Sport und Spiel wieder mithalten kann. „Sehr vieles fällt durch die Gewichtsreduktion sehr viel leichter.“
Dass er mit der Umstellung seines Lebensstils bisher so gut zurechtkommt, schreibt er auch der Unterstützung zu, die er hatte: „Ich habe mich vor der Operation einer Selbsthilfegruppe angeschlossen. Der Austausch mit Menschen, die bereits einen Adipositas- Eingriff hinter sich hatten, hat mir enorm geholfen. Ich wusste, was auf mich zukommt und konnte mich vorbereiten.“
Vor ein paar Monaten ist Markus Gilg Vater geworden. Wenn er sein neues Lebensgefühl auf den Punkt bringen will, beschreibt er es so: „Essen ist nicht mehr mein Mittelpunkt. Das sind jetzt mein Sohn und meine Frau.“
Klinikum Esslingen, Adipositaszentrum
Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie
Chefarzt Professor Dr. Ludger Staib
Telefon 0711 3103-2601
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